Leben auf dem Turm der Martinskirche

 

 

Leben auf dem Turm der Martinskirche

Es liegt schon einige Jahre zurück, da bot uns Frau Dorothea Fischer eine Führung auf den Kirchturm an; wir waren dankbar dafür. Frau Fischer ist eines von fünf Kindern des letzten Türmers. Sie ist auf dem Turm geboren und hat 23 Jahre lang dort gewohnt. Wir trafen uns an einem sonnigen Sonntag im Mai gegen 15.00 Uhr vor der Kirche und nachdem der letzte Ton der Glocke, die zum Gedenken an die Kreuzigung Christi geläutet wird, verklungen war, öffnete uns das Ehepaar Fischer die Eingangstür: Das Abenteuer konnte beginnen.

Wir alle kennen den Ausspruch, dass die Götter vor den Preis den Schweiß gesetzt haben. So stapften wir, mehr oder weniger schnaufend, die hölzernen und metallenen Stufen der Wendeltreppe hinauf, der man die starke Benutzung ansah. Im Gänsemarsch, versteht sich, und eine Hand immer am sicheren Geländer. 148 Stufen – das ist eine Menge Anstrengung! Dabei lauschten wir den interessanten Berichten, die unser „Türmer-Dorle“ humorvoll erzählte. Es ging an den Glockenstühlen und anderen Sehenswürdigkeiten vorbei bis wir endlich im ehemaligen Wohnzimmer der Türmerfamilie standen.

Denkt man an unsere heutigen Wohnungen, zerbricht man sich sofort den Kopf, wie eine siebenköpfige Familie unter diesen Verhältnissen offensichtlich zufrieden leben konnte. Das Wohnzimmer wurde von einem Tisch beherrscht, trotzdem befand sich darin, nur durch einen Vorhang abgetrennt, auch das elterliche Schlafzimmer. Auf dem kleinen Herd in der Küche konnte die Mutter nur kochen, das Backen übernahm ein örtlicher Bäcker. Auch die sanitären Einrichtungen boten nur den erforderlichen Raum. Die Kinderzimmer waren - nach Buben und Mädle getrennt - unten im Turm und sind heute nicht mehr vorhanden.

Alle Dinge des täglichen Bedarfs mussten über die Wendeltreppe nach oben geschafft werden. Lebensmittel, Holz oder Wasser, alles, was sonst noch gebraucht wurde. Auch die Kinderwagen samt Inhalt mussten hoch, sonst wären die Kissen klamm oder gar feucht geworden. Einmal hatte die Mutter Brötle vorbereitet, und damit man nicht zweimal laufen musste, bekam das untere Blech in jede Ecke ein Hölzle gesteckt, auf die dann das zweite Blech gelegt wurde. Als doch einmal ein Malheur passierte, kam von oben die Stimme der erschrockenen Mutter, nicht etwa: „Hast Du Dir weh do?“, sondern: „Was ist mit dene Brötle? Hend die Glocke ebbes abkriegt?“

Läuten musste, wer gerade verfügbar war. Traf es den noch nicht so kräftigen Nachwuchs, hörte man die Kirchheimer sagen: „Heut waren die Kinder wieder dran.“ Geläutet wurde natürlich auch bei Beerdigungen, doch war der Friedhof vom Turm aus nicht einsehbar. Hier half ein Nachbar, der zum gegebenen Zeitpunkt seine Fenster öffnete. Bei Nebel musste man sich auf sein Gefühl verlassen.

Nach der Besichtigung der Wohnung betraten wir den „Balkon“, der rund um einen Teil des Turmes gebaut ist. Im Nu waren alle Beschwernisse beim Besteigen des Turmes vergessen, so unbeschreiblich schön war der Anblick Kirchheims von oben. Dazu die blühenden Kastanien, keiner von uns hatte gewusst, dass es so viele in der Stadt gab. Jetzt verstanden wir auch, dass unser Dorle nach ihrer Hochzeit ihren Siegfried zu überreden versuchte, mit auf den Turm zu ziehen, was er aber ablehnte. Dorle fürchtete sich vor dem Wohnen direkt auf der Erde, der Baum vor dem Haus zum Beispiel könnte auf das Gebäude fallen, oder ähnlich schreckliche Dinge könnten passieren.

Erfüllt von dem Gesehenen und Gehörten machten wir uns an den Abstieg, vorsichtig, damit man nicht schneller unten ankam als einem lieb war. Und mir ist noch der kräftige Muskelkater im Gedächtnis, der einige Tage anhielt. Ich sollte wohl öfter mal einen Turm besteigen.

Helga Beckmann

 

 

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